Obwohl ich heute frei hatte, bin ich noch nicht im Modus, mich auch wieder frei zu bewegen. Will heissen: Man könnte jetzt wieder in Geschäfte gehen, ins Fitnesscenter, in den Buchladen, Schuhe anschauen, Kleidli. Doch so etwas kam mir nicht mal ansatzweise in den Sinn, als ich kurz auf der Post war, um ein Paket aufzugeben. Total ausradiert die Idee, länger als nötig irgendwo zu verweilen. LoLo (Lockerung des Lockdowns) hat bei mir noch nicht gegriffen. Vielmehr scheinen Rückzug und Zuhausebleiben Teil von mir geworden zu sein. Beängstigend? Ich weiss nicht. Denn unfrei fühle ich mich nicht. Und das ist wahrscheinlich nicht mal ein Widerspruch. Vielleicht ist der momentane Zustand vergleichbar mit der Genesung nach einer langen Krankheit: Man sieht sich zwar physisch imstande, wieder aufrechte Schritte in die Welt zu tun, bleibt ihr aber geistig seltsam fremd. Anders gesagt: Die Maschine läuft, nur die Inhalte und Netzwerke sind noch nicht hochgefahren. Aber es rattert…
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Tag 56 (Countdown 54)
Während sich alles wieder zur normalisieren beginnt, spielt das Wetter verrückt. Die Eisheiligen finden genau in dieser Woche der Wiedereröffnung statt, da sich Schüler wieder auf ihre Gspänli und Lehrer freuen, Geschäfte auf Kunden, Restaurants auf Gäste und Fitnesscenter auf Bewegungs-hungrige: vom 11. bis 15 Mai. Wir haben ja geahnt, dass es so kommen könnte und es pünktlich zur Lockerung des Lockdowns kalt und regnerisch wird. Doch wir tragen auch das mit Fassung. So schnell kann uns niemand mehr den Verleider anhängen, nicht mal das Wetter. Ha! Drum schalte ich nach vollbrachtem Homeoffice die bislang fakultative Nice-to-have-Phase der häuslichen Räumerei: Kühlschrank inkl. Eisfach abtauen, entrümpeln, auf Hochglanz polieren. Und braue mir ein Hühnersüppchen für die ganze Woche.
PS: Wir starten nun den Countdown. 55 Tage dauerte die Corona-Zeit
bis gestern. Ab heute zählen wir parallel zurück. In der Hoffnung,
der Virusspuk möge dann in totalis vorbei sein. Das wären dann zweimal
55 Tage. Irgendwie eine runde Sache, nicht?
Tag 55
55 Tage. Die Schnapszahl am Muttertag und vor der Wiedereröffnung der Schulen, Restaurant und vieler Geschäfte. Nach acht Wochen Lockdown die Lockerung. Tragt Sorge, ihr alle da draussen – und bis gleich.
Tag 54
The remains of the week: viel zu wenig Schlaf. Vollmondbedingt und auch selbstverschuldet. Das Einzige, was dann an einem so schönen Tag noch geht, ist ein stundenlanger Spaziergang mit Boxenstop. Beim Laufen läuft das Denken mit, es fliesst dahin, um sich mit neuen Gedanken zu verbinden, die dann auch mitlaufen. Ein Genuss, der auch unausgeschlafen seine Wirkung entfaltet. U. beim Widenbad zu einem Gewürztraminer getroffen. Beizen-Besitzer A. war zufällig auch da, so konnten wir das sanft und hübsch renovierte Restaurant begutachten. Dann weiterlaufen, grosse Kurve vom Männedörfler Türli über den Keltenhügel zum Mühlehölzli ob Stäfa. Bei den Anlagen der Gruppenwasserversorgung Zürcher Oberland einen Velofahrer bei seinen Kunststücken beobachtet: von einem zum andern Mäuerchen manovrierte er sein Gefährt, hochkonzentriert und unter Einsatz enormer Muskelkraft. Verrückt. Die Umstehenden haben applaudierten, und ich habe Fotos geschossen. Voilà:
Tag 53
Heute, exakt 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wäre Theaterpremiere gewesen, unsere kleine grosse Theaterpremiere in der kleinen, kuscheligen Scheune: “Der Fund – ein Frühsommernachtstraum” hätten wir gegeben. Das Stück, basierend auf erfundenen Sagen aus der Region, war auf guten Wegen, wär schön geworden, schräg, lustig, tiefgründig und auch ein bisschen traurig. Stattdessen spielen wir weltweit in corpore das Frühsommernachtstrauma. Ausschmückung der Rollen, Kostümierung, Tonspur, Dialoge, Dramaturgie, innere Fäden und theoretischer Überbau sind jedem Mitspieler zur Gestaltung selbst überlassen. Tut das Beste damit, liebe Treibhölzer, Theaterfreunde, Anverwandte und Bekannte, gedenkt eurer Träume und Ideale, lebt eure Liebe, redet eure Texte, seid geistreich in euren Gesprächen, und wenn ihr in eine Sackgasse geraten solltet: Erfindet euren Deus ex machina. Der hilft. Ehrlich! Je vous embrasse.
Tag 52
Verschwörungstheorien sind ein übles Krebsgeschwür. Sie erklären die Welt oder das aktuelle Corona-Geschehen aus einer Warte, die derart simpel ist, dass man nur den Kopf schütteln kann, dass jemand überhaupt in Erwägung zieht, ihr Aufmersamkeit zu schenken. Verschwörungstheoretiker, die ihr Schwurbelzeug in Umlauf bringen, kennen nämlich den Übeltäter, den Urheber all des Ungemachs, und natürlich geht es ihm – dem vermeint-lichen Strippenzieher – nur um eines: um die Weltherrschaft. Lange waren Juden im Visier der Verschwörungstheorien, darunter immer wieder gern gebrandmarkt: George Soros, Milliardär, Jude – und Philanthrop. Und nun also Bill und Melinda Gates, Unternehmer, Milliardäre – und Mäzene. Die haben nämlich die WHO gekauft und unterwandert, wollen weltweit Zwangsimpfungen durchführen (deswegen haben sie vermutlich auch Covid-19 aus dem Labor der Chinesen entweichen lassen, oder weiss der Geier, wie die obskure Fantasie der Besserwisser ins Unkraut schiesst). Ihr Ziel, so die Verschwörungsheoretiker: die Weltbevölkerung mit einem Chip implantieren – um? Ja, was wohl: um die Weltherrschaft zu erringen. So ein Schwachsinn, echt! Umso mehr freut mich, dass es Rechercheure und Faktenchecker gibt, die ihre Arbeit machen: Voilà die Widerlegung der Verschwörungstheorie um Melinda und Bill Gates.
Tag 51
Vollmond. Beinahe hätte ich die Kurve in den Schlaf geschafft, da brummte das Handy. Und aus war der Traum mit beizeiten zu Bett gehen. Nun denn. So belästige ich euch da draussen halt noch mit diesem und jenem. Mit diesem eigentümlichen Film von Guillermo del Toro zum Beispiel: “Shape of Water”, “Das Flüstern des Wassers”. Die Liebesgeschichte zwischen einer stummen Reinigungskraft und einer amphibisichen Kreatur ist in den Sechzigern angesiedelt, was an der Ausstattung und der Musik durchaus erkennbar ist. Doch eigentlich spielt sie in einem zeitlosen Raum, ist ein mit fantastischen Bildern und starken Figuren inszeniertes Märchen – und doch weit mehr als ein Märchen. Guillermo del Toro zum titelgebenden zentralen Motiv des Wassers: „Wasser nimmt immer die Form an, in der es sich befindet. So sanft es auch sein kann, ist es zugleich die stärkste und verformbarste Kraft des Universums. Gilt das nicht ebenso für die Liebe? Auch die Liebe kann jede Form annehmen, egal ob für einen Mann, eine Frau oder eine Kreatur. Ich mag Filme, die befreiend sind und sagen: Es ist gut so, der zu sein, der du bist.“ Gescheit der Regisseur, berauschend der Stoff und die Inszenierung, sehenswert der Film.
Tag 50
Und also regnete es und regnete es, und es wollte gar nicht mehr aufhören zu regnen. Mein Programm an meinem Freitag fiel ins Wasser. Jäten und durch die Weltgeschichte spazieren, hätte es beinhaltet. Originell, gell. Der beruhigende Soundtrack der stetig fallenden Tropfen schien mir aber ideal, das heute eingetroffene Freihand-Nackenmassagegerät auszuprobieren. Das ist so ein bandähnliches Ding, das man um den Nacken legt und an den Strom anschliesst, worauf beidseitig eingebaute Kugeln zu rotieren beginnen. Das Ganze kann auch verschoben werden, um tiefere Bereiche am Rücken mit den Kugeln zu lockern. Sicher nicht vergleichbar mit Handarbeit, dieser elektrifizierte Nackenüberwurf, aber für den täglichen Gebrauch durchaus tauglich. Dann war es 13 Uhr, und es regnete immer noch. Also Programmänderung: arbeiten statt Freitag, Homeoffice machts möglich – um das noch ungeschriebene Kapitel “Positive Auswirkungen der Krise” mal wieder mit einem Pluspunkt zu erweitern.
Tag 49
Heute kam der Bescheid, dass das Kindchen, mein Enkeli!, vielleicht doch schon früher auf die Welt kommt als bisher angenommen. Ich hoffe, nicht allzu früh, denn der Geburtstermin wäre ja erst Mitte Juni. Aber wie auch immer: Ab sofort müssen die werdenden Eltern parat sein – und nun im Nu Büro und Schlafzimmer zügeln, damit genügend Platz da ist für das Bettchen des Kleinen. Und die Grossmamis können im Hintergrund mitfiebern. Mir gefällt es schon jetzt, das Nonna-Sein. Nicht an der Front alles selbst durchspielen, aber aus der Ferne das Wachsen eines neuen Wesens miterleben können. Miterleben, ohne präsent zu sein, das funktioniert einwandfrei, ist ebenso bereichernd und wohl auch der tiefere Sinn des Grosiseins. Ich freu mich über alles, was da noch kommt!
Tag 48
Manchmal stelle ich mir vor, ich lebte abgeschieden irgendwo auf einer Alp. Ich würde dort nur mit dem Nötigsten auskommen, was Nahrung, Kleidung, Unterhaltung und soziale Kontakte anbelangt. Es wäre ein selbstgewählter Rückzug vom Dröhnen der Welt und doch fern von der heiligen Überzeugung einer Aussteigerin. Ein netter Versuch, mir das auszumalen. Verlockend zumal, ich könnte mich da ganz und gar hinein-steigern. Doch bevor ich jetzt in die sozialromantische Falle tappe und das Gras wachsen höre und die zirpenden Grillen zu verstehen vorgebe: Der Vergleich mit der virusbedingten Rückzugszeit hinkt an allen Ecken und Enden und wankt vor allem im Fundament. Denn die von Covid-19 verursachte Absenz von sozialem Miteinander ist mitnichten selbstgewählt. Und steht in krassem Widerspruch zur Vor-Corona-Zeit, da allenthalben vor Entsozialiasierung und Anonymisierung gewarnt wurde, weil niemand mehr auf den anderen zuginge und jeder nur noch in sein Gerätchen glotze, in der Meinung, so zur Genüge mit der Welt verbunden sein. Alles obsolet geworden. Derzeit kann jeder bei seinem Hofgang von der Quarantäne ungestört in sein Gerätchen glotzen, so lange er will. Doch wer weiss, vielleicht dringen beim Spaziergang plötzlich die zirpenden Grillen durch, und wer weiss, vielleicht haben sie sogar etwas zu erzählen.